Der demographische Wandel fordert das Gesundheitswesen heraus. Fachpersonen haben es vermehrt mit älteren und chronisch kranken Patientinnen und Patienten zu tun. Wie gelingt es, diese bedürfnisgerecht zu unterstützen? Damit setzen sich verschiedene Teams der OST – Ostschweizer Fachhochschule intensiv auseinander.
Den letzten Lebensabschnitt unheilbar kranker Menschen so lebenswert wie möglich gestalten: Dieses Ziel verfolgt Palliative Care. An denselben Grundsätzen orientiert sich Dementia Care, die jedoch spezifisch auf das Wohlbefinden und die Selbstbestimmtheit von Personen mit Demenz fokussiert. Prof. Dr. Andrea Kobleder und Prof. Dr. Heidi Zeller forschen und dozieren an der OST – Ostschweizer Fachhochschule zu diesen Themengebieten. Im Interview sprechen die Studienleiterin des MAS in Palliative Care und die Studienleiterin des MAS in Dementia Care über den Handlungsbedarf in der Praxis, den Mehrwert der Weiterbildung und ihre persönliche Motivation, sich dafür zu engagieren.
Mit welchen Herausforderungen sind die Demenz- und Palliativversorgung heute und in Zukunft konfrontiert?
H. Zeller: Demenz ist eine globale Herausforderung, die fast alle Länder gleichermassen betrifft. In der Schweiz leben derzeit rund 130 000 Personen mit einer Demenz und man geht davon aus, dass jährlich etwa 30 000 Menschen neu daran erkranken. Sechs Prozent dieser Neubetroffenen sind unter 65 Jahre alt und stehen somit meist noch im Berufsleben. Für diese Gruppe existieren nur wenige Angebote. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist: Jedes einzelne Schicksal involviert ein bis drei Angehörige. Diese leisten derzeit nahezu die Hälfte der Betreuungs- und Pflegearbeit und federn damit Kosten von jährlich 5,5 Milliarden Franken ab. Wir müssen davon ausgehen, dass dies längerfristig nicht so bleibt. Zum Beispiel gibt es immer weniger dieser Familienverbünde, die bestimmte Pflegeaufgaben auffangen. Das bedeutet, dass das Gesundheitssystem mit zusätzlichen Aufwänden zu rechnen hat. Die engen finanziellen Rahmenbedingungen erschweren es aber häufig schon jetzt, den Betroffenen und Angehörigen die Betreuung respektive Unterstützung anzubieten, die sie brauchen würden. Hier muss auf jeden Fall ein Umdenken stattfinden.
A. Kobleder: Der Bereich der Palliative Care hat mit sehr ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen. Durch die demographische Entwicklung steigt die Anzahl älterer und multimorbider Patientinnen und Patienten. Gleichzeitig ist unser Gesundheitssystem aber vor allem auf die akute stationäre Versorgung ausgerichtet. Auf Dauer wird dieser «Spitalfokus» nicht funktionieren. Wir müssen viel mehr in das häusliche und ambulante Betreuungssetting investieren. Wichtig ist auch, dass die informelle Pflege, die Angehörige oder Freiwillige leisten, mehr Beachtung und Wertschätzung erfährt. Auf professioneller Ebene gilt es zudem, Leistungen im palliativen Bereich abrechenbar zu machen und die Fachpersonen mit einem grösseren Wissen und zusätzlichen Kompetenzen auszustatten. Hier sehen wir beispielsweise aber oft, dass die Institutionen aufgrund des hohen Kostendrucks bei Aus- und Weiterbildungen sparen.
Welches Wissen und welche Kompetenzen sind erforderlich, um Personen mit Demenz oder Personen in palliativen Situationen optimal zu betreuen?
A. Kobleder: Essenziell für den Bereich der Palliative Care ist ein vertieftes Fachwissen rund um das Symptommanagement. Dabei geht es um den richtigen Einsatz pharmakologischer, nicht-pharmakologischer, pflegerischer sowie interprofessioneller Interventionen für die betroffene Person mit stetiger Berücksichtigung und Integration ihres sozialen Umfelds. Symptome beziehen sich jedoch nicht nur auf die rein körperliche, sondern auch auf die psychische, soziale und spirituelle Ebene. Ebenso bedeutsam ist deshalb das Wissen aus Bezugsdisziplinen wie der Psychologie oder Soziologie. Eine sehr wichtige Rolle spielen Kompetenzen zur interprofessionellen Zusammenarbeit. Und nicht zuletzt werden interkulturelle Kompetenzen zusehends bedeutsamer. Gesamthaft sind die Anforderungen an die Fachpersonen sehr hoch.
H. Zeller: In der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz ist ein fundiertes neuropathologische Wissen zentral. Dazu gehören Kenntnisse über die Vorgänge, die sich bei einer Demenz im Gehirn abspielen, aber auch über die verschiedenen Facetten, mit denen diese Erkrankung in Erscheinung tritt. Denn es gibt nicht die Demenz. Betroffene zeigen sehr unterschiedliche Symptome und Verhaltensweisen. In diesem Zusammenhang braucht es auch Kenntnisse über verschiedene Pflege- und Betreuungskonzepte sowie das Knowhow, welches Konzept für welche Patientinnen und Patienten sinnvoll ist. Ebenfalls wichtig ist eine hohe verbale und nonverbale Kommunikationsfähigkeit, gerade weil sich Personen mit Demenz im Verlauf der Krankheit immer weniger gut ausdrücken können. Elementarer Bestandteil einer guten Demenzpflege ist aber auch die Fähigkeit und Bereitschaft, tragfähige Beziehungen zu den Betroffenen und deren Angehörigen aufzubauen, sich auf sie einzulassen und den Weg mit ihnen gemeinsam zu gehen.
Sie leiten Studien- und Lehrgänge an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, in denen sich Fachleute im Bereich Palliative Care und Dementia Care weiterbilden können. In welchen Tätigkeitsfeldern arbeiten die Teilnehmenden?
H. Zeller: Bei einem Grossteil der Weiterbildungsteilnehmenden im Bereich Dementia Care handelt es sich um Pflegefachpersonen, die direkt in die Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz involviert sind. Davon arbeiten die meisten in einem Pflegeheim, einige aber auch bei der Spitex, in gerontopsychiatrischen Kliniken oder Akutspitälern. Ein paar wenige sind bei Beratungsstellen tätig.
A. Kobleder: Wer den MAS in Palliative Care oder einen Zertifikatslehrgang daraus absolviert, ist beruflich primär im Bereich der spezialisierten palliativen Versorgung anzutreffen. Zum Beispiel auf Palliativstationen, in Hospizen oder in spezialisierten ambulanten Diensten. Es gibt aber auch solche, die in Pflegeheimen arbeiten, wo der Einsatz der Palliative Care eine ebenso hohe Bedeutung hat. Die Tätigkeitsfelder können sehr vielfältig sein. Im Zentrum der Tätigkeit steht jedoch immer der betroffene Mensch, der sich in einer oft komplexen palliativen Situation befindet, sowie dessen soziales Umfeld.
Was sind die Besonderheiten Ihrer Studien- und Lehrgänge?
A. Kobleder: Eine Besonderheit der Weiterbildungen im Bereich Palliative Care ist sicherlich der interprofessionelle Ansatz, der sich bei den Studierenden, aber insbesondere auch bei den Dozierenden widerspiegelt. Bei uns unterrichten sowohl Expertinnen und Experten aus der Pflegepraxis, Pflegewissenschaft und Medizin als auch Fachpersonen aus Bereichen wie der Sozialen Arbeit oder der Seelsorge. Ebenfalls zu erwähnen ist der intensive Klassenverband im MAS in Palliative Care. Er entsteht dadurch, dass die Gruppe sich nicht je nach Modul neuformiert, sondern über mehrere Monate hinweg zusammenbleibt. Dadurch bildet sich ein Netzwerk, das oft Jahre über die Weiterbildung hinaus bestehen bleibt.
H. Zeller: Das Alleinstellungsmerkmal unserer Weiterbildungen im Bereich Dementia Care ist der spezifische Fokus auf die Demenzerkrankung. Der MAS in Dementia Care ermöglicht den Studierenden eine vertiefte Auseinandersetzung mit Themen rund um die Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz. Die Basis bildet der CAS «Lebensweltorientierte Demenzpflege». Dieser Zertifikatslehrgang thematisiert die Lebenswelt der Betroffenen und ihrer Angehörigen und befähigt unter anderem dazu, Situationen professionell einzuschätzen und geeignete Interventionen anzubieten. Die Studierenden haben die Möglichkeit, die Zertifikatslehrgänge des MAS individuell zu kombinieren, was eine weitere Besonderheit dieses Weiterbildungsprogramms ausmacht.
In Ihren Weiterbildungen stösst man regelmässig auf den Begriff der Interprofessionalität. Warum ist dieser so zentral?
H. Zeller: Um Personen mit Demenz professionell zu begleiten, braucht es Fachkräfte verschiedener Berufszweige – dazu gehören neben der Pflege und Medizin beispielsweise auch Disziplinen wie die Ergo-, Physio- oder Logotherapie. Damit einher geht, dass unsere Studierenden in ihrem beruflichen Umfeld oft mit anderen Professionen zusammenarbeiten. Indem wir Dozierende unterschiedlicher Disziplinen engagieren, bilden wir diese Interprofessionalität auch in den Weiterbildungen ab und können den Studierenden den Mehrwert eines interprofessionellen Teams noch einmal verdeutlichen.
A. Kobleder: Auch in palliativen Situationen ist die Zusammenarbeit im interprofessionellen Team die Grundlage, um eine optimale Versorgung der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. Wie bereits erwähnt, arbeiten wir in den Weiterbildungen im Bereich Palliative Care ebenfalls mit Dozierenden verschiedener Professionen zusammen. Da sich es sich bei unseren Studierenden mehrheitlich um Pflegefachpersonen handelt, findet auch ein reger professionsbezogener Austausch statt, der ebenfalls wichtig ist. Doch in Diskussionsgruppen merkt man immer wieder, dass es ungemein bereichernd wirkt, wenn andere Perspektiven einfliessen. Insofern besteht also noch Potenzial, mehr Teilnehmende aus anderen Berufsbereichen zu gewinnen – zum Beispiel aus der Physiotherapie oder der Sozialen Arbeit.
Der Transfer des Gelernten in die Praxis spielt in den Weiterbildungen an der OST – Ostschweizer Fachhochschule eine wichtige Rolle. Können Sie Beispiele besonderer Lehr- und Lernformen nennen, die dazu eingesetzt werden?
A. Kobleder: In allen Zertifikatslehrgängen des MAS in Palliative Care bekommen die Studierenden unter anderem den Auftrag, sich gegenseitig für einen Tag am Arbeitsplatz zu besuchen und zu begleiten. Im Vorfeld überlegen sie sich konkrete Fragestellungen, die sie in die anderen Institutionen mitbringen und auf die sie im Rahmen dieses «Beobachtungstages» Antworten ausarbeiten – auch unter Einbezug von Fachliteratur.
H. Zeller: Neben klassischen Formen wie Referaten, Lehrgesprächen, Arbeitsaufträgen und Gruppenarbeiten organisieren wir im MAS in Dementia Care praxisnahe Lektionen zur Einübung der Lerninhalte. Dabei arbeiten wir zum Beispiel mit professionellen Schauspielpatientinnen und -Patienten zusammen, die verschiedene Fälle simulieren. Die Studierenden werden auf diese Weise in eine realistische Situation hineingeführt, in der sie adhoc agieren und Lösungen präsentieren müssen.
Was können die Studierenden nach Abschluss der Weiterbildung in der Praxis bewirken – gerade auch im Hinblick auf die Herausforderungen im Bereich der Dementia Care und Palliativ Care?
A. Kobleder: Die Haupttätigkeit der meisten Absolventinnen und Absolventen bleibt die Betreuung und Unterstützung von Betroffenen und Angehörigen. In diesem Zusammenhang können sie insofern etwas bewirken, als sie über das Wissen und die Kompetenzen verfügen, in den oft sehr komplexen palliativen Situationen angemessene Interventionen und eine optimale Betreuung anzubieten. Daneben sind sie aber oft auch für konzeptionelle Aufgaben und die fachliche Weiterentwicklung in ihren Institutionen verantwortlich. Das wiederum hat eine regionale oder sogar nationale Ausstrahlungskraft. Sie beteiligen sich damit am Diskurs zum Thema Palliative Care und können hierbei einen wichtigen Beitrag leisten, um den Herausforderungen angemessen zu begegnen.
H. Zeller: Auch die Absolventinnen und Absolventen der Weiterbildungen im Bereich Dementia Care übernehmen häufig eine fachliche Führung im Pflegeprozess. Mit ihrem Wissen und ihren Kompetenzen leisten sie einen Beitrag an eine qualitativ gute Betreuung von Personen mit Demenz. Im Team wirken sie zudem als Träger und Multiplikatoren für relevante Themen.
Sie selbst sind auch in der Forschung tätig. Wie wirkt sich diese zusätzliche Rolle auf die Weiterbildungen aus?
H. Zeller: Die Themen, die wir im Kompetenzzentrum beforschen, haben einen direkten Bezug zu den Fragestellungen und Herausforderungen in der Dementia Care und finden deshalb auch Eingang in die Weiterbildung. Es bereichert die Lehrveranstaltungen durchaus, wenn wir auf eigene Forschungsprojekte Bezug nehmen und aktuelle Ergebnisse präsentieren können. Der indirekte Effekt ist, dass wir den Studierenden damit auch den Nutzen der Forschung aufzeigen.
A. Kobleder: Wir versuchen ebenfalls, die Ergebnisse unserer Forschungsprojekte direkt einfliessen zu lassen. Durch meine Forschungstätigkeit lege ich zudem Wert darauf, dass die Studierenden im Rahmen ihrer Abschlussarbeiten Studien miteinbeziehen, das heisst, systematisch nach Literatur suchen, die Ergebnisse interpretieren und daraus Schlüsse für ihre eigene Praxis ableiten. Das ist keine banale Angelegenheit und stellt oft eine gewisse Hürde dar. Deshalb gibt es Lehreinheiten, in denen diese Kompetenzen trainiert werden. Studierende, die sich speziell interessieren, am wissenschaftlichen Diskurs teilzunehmen, unterstütze ich darin, gewonnene Erkenntnisse der Fachwelt zugänglich zu machen – zum Beispiel in Form eines Poster-Beitrags an einem Kongress.
Sie engagieren sich beide intensiv in der Weiterbildung. Was motiviert Sie dazu?
H. Zeller: Ich war selbst einige Zeit lang als diplomierte Pflegefachfrau auf einem Spezialgebiet tätig und habe dazu eine Weiterbildung absolviert. Ihr Nutzen ist mir damals sehr schnell sehr deutlich geworden. Ohne dieses spezialisierte Wissen hätte ich beruflich nicht bestehen oder mich weiterentwickeln können. Es bringt aber in jedem Fall einen Mehrwert, wenn man sich stark in ein bestimmtes Fachgebiet vertieft. Nur schon, weil man dadurch den Blick für andere Themen öffnet und immer mehr Aspekte miteinander vernetzten kann.
A. Kobleder: Ich habe zeitgleich zu meiner Ausbildung als Pflegefachfrau einen Master in Pflegewissenschaft abgeschlossen. Im Berufsalltag ist mir dann immer wieder bewusst geworden, dass ich durch dieses zusätzlich erworbene Wissen besser erklären und argumentieren kann – ob im Umgang mit Betroffenen oder im interprofessionellen Austausch mit dem Team. In meiner jetzigen Rolle besteht mein Ziel darin, diese Erfahrung weiterzugeben. Durch den Austausch mit den Absolventinnen und Absolventen erfahre ich, wie sie nach der Weiterbildung neue Rollen einnehmen, ausgestalten und neue Wege bestreiten. Das zu sehen, motiviert mich sehr.